Warum Edelbrände seit der Corona-Krise die Barszene aufmischen

Edelbrände sind das Nonplusultra der heimischen Spirituosen. Warum sie seit Corona das Gebot der Stunde sind, das jahrzehntealte Geschäftsmodell internationaler Konzerne aufmischen – und Preiselbeeren wieder Sex verleihen.
Oktober 1, 2020 | Fotos: Monika Reiter, Sara Sera, beigestellt

Österreich als Weltklasse-Brennnation

Corona steht mittlerweile für mehr als die verheerendste Pandemie der letzten einhundert Jahre. „Seit Corona“ – so beginnt in der Regel die Beschreibung dieser neuen und so unwiderruflichen Normalität. Und während mit Zoom-Meetings, Online-Shops und Homeoffice die Digitalisierung ihren letzten Invasionsschub in unser aller Leben erhalten hat, geht es in einer ganz bestimmten Branche um einiges bodenständiger zu. Denn so urban, luxusbedacht und eklektisch das Spirituosengeschäft auch weiterhin scheinen mag – Corona mischt diesen hochprozentigen Sektor ordentlich auf. Das abgelutschte Stichwort Regionalität trifft es zwar im Großen und Ganzen – aber irgendwie eben auch nicht. Schließlich geht es um mehr.

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Oltion Mehmetaj von der Grazer Churchill-Bar setzt für viele Cocktail-Klassiker wie Whiskey Sour oder Sex on the Beach auf heimische Edelbrände – und ist damit Teil einer nachhaltigen Umdenkbewegung innerhalb der Barszene.

Österreich als Weltklasse-Brennnation

Corona steht mittlerweile für mehr als die verheerendste Pandemie der letzten einhundert Jahre. „Seit Corona“ – so beginnt in der Regel die Beschreibung dieser neuen und so unwiderruflichen Normalität. Und während mit Zoom-Meetings, Online-Shops und Homeoffice die Digitalisierung ihren letzten Invasionsschub in unser aller Leben erhalten hat, geht es in einer ganz bestimmten Branche um einiges bodenständiger zu. Denn so urban, luxusbedacht und eklektisch das Spirituosengeschäft auch weiterhin scheinen mag – Corona mischt diesen hochprozentigen Sektor ordentlich auf. Das abgelutschte Stichwort Regionalität trifft es zwar im Großen und Ganzen – aber irgendwie eben auch nicht. Schließlich geht es um mehr. 

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Oltion Mehmetaj von der Grazer Churchill-Bar setzt für viele Cocktail-Klassiker wie Whiskey Sour oder Sex on the Beach auf heimische Edelbrände – und ist damit Teil einer nachhaltigen Umdenkbewegung innerhalb der Barszene.

„Alles wird vor unserer Nase angebaut und produziert – und wir greifen nicht zu“, sagt Oltion Mehmetaj, Barkeeper der Grazer Churchill-Bar. „Das hat sich durch Corona geändert.“ Mit „alles“ meint Mehmetaj vor allem Edelbrände. „Neben Deutschland und der Schweiz haben wir in Österreich weiterhin die Nase vorn. Österreich ist eine Weltklasse-Brennnation.“ Zwar war Mehmetaj schon vor dem ganzen Corona-Wahnsinn von der Qualität des heimischen Edelbrands überzeugt, doch erst seit dem Lockdown hat er seine theoretische Neugierde endlich in eine vielversprechende Praxis umgesetzt, die offenbar Schule macht: Statt auf jene Spirituosen zu setzen, deren unangefochtenes Primat seit Jahrzehnten von omnipräsenten Konzernen gehalten wird, gibt der erfahrene Cocktailtüftler seinen Kreationen durch regionale Edelbrände den letzten und, ja, neuesten Kick.

„Die meisten von ihnen haben natürlich ihren Preis, aber sie sind nicht teurer als manche Premium-Spirituosen – die auch nicht immer das Geld wert sind, um das sie verkauft werden. Darum geht es: Gin, Rum, Cognac – da steckt eine Unmenge an Marketingkosten drinnen. Die können sich kleine Betriebe nicht leisten, obwohl sie Edelbrände in hervorragender Qualität herstellen.“ Was aber ist ein Edelbrand genau? Warum kann und soll ausgerechnet er die aalglatten Allerweltsprodukte ersetzen? Und wie setzt Mehmetaj ihn in seine Post-Corona-Cocktails ein?

Destillieren ist alles

Früher, da war das Obstbrennen noch reine Resteverwertung. Jene Äpfel und Birnen, die schon etwas zu lange am Boden gelegen hatten, wurden wohl oder übel gebrannt – zu Obstler, Schnaps, was auch immer. Das hat sich vor rund vierzig Jahren geändert. Denn damals schon erkannten einige vorausschauende Produzenten, dass die witzigmannsche Maxime „Das Produkt ist der Star“ genauso für das Brennen ihre Gültigkeit hat. Also wurden auch dafür nur die besten Birnen, Pflaumen, Marillen oder Quitten verwertet. Erstaunlich dabei: Während die Spitzengastronomie schnell den Wert von Edelbränden erkannte, blieb sie bei den virtuosen Mixologen hinter dem Bartresen eher eine Rarität. Zumindest – und das ist das Absurde – im Vergleich zu all ihren exotischen Flaschenfreunden wie Rum, Gin, Whiskey und Co. 

„Fruchtedelbrände sind Spirituosen, die zu 100 Prozent aus Fruchtmaische destilliert werden“, erklärt Mehmetaj. Das entsprechende Obst wird handgelesen, Stiele und Kerne händisch entfernt, die faulen Exemplare aussortiert. „Der Brand wird auf 60 bis 85 Prozent destilliert und dann mit Wasser auf Trinkstärke verdünnt. Dadurch wird die Schärfe des Alkohols gemildert.“ Im Gegensatz zu Holzdestillate wie Whiskey, Rum und Cognac liegt die Kunst des guten Fruchtedelbrands nicht in der Reifung, sondern im Prozes der Maische und Destillation. „Klar“, gibt Mehmetaj zu, „man könnte auch einen Frucht­edelbrand im Holzfass reifen lassen. Aber was will ich? Holz oder Frucht? Eine zu lange Fasslagerung kann die feinen Fruchtaromen übertönen. Eine Balance zwischen beiden zu schaffen, das ist für mich die wahre Kunst.“ Gereift werden diese hochprozentigen Fruchtdestillate normalerweise in Glasballons oder Edelstahlbehältern  – bis zu ein Jahr. 

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Erst durch Corona haben viele Barkeeper umgedacht – und beziehen viele ihrer Spirituosen nun aus kleinen, regionalen Betrieben, deren hervorragende Produkte den Cocktails beeindruckende Ecken und Kanten verleihen

Sex on the Preiselbeer

Statt Whiskey Sour beispielsweise mixt Mehmetaj mit Williamsbirnen-Edelbrand. „Ich könnte“, gibt der Regionalist zu bedenken, „auch einen Williamsschnaps nehmen, der ist günstiger als der Edelbrand, aber das ist eben alles eine Kostenfrage.“ Auch eine Kombination von Edelbrand und Standard-Spirituosen ist möglich. Etwas Zucker, Zitronensaft – und fertig ist die regionale Interpretation des urbanen Whiskey Sour. Auch der Cocktail-Klassiker Cosmopolitan kann landwirtschaftliches Flair annehmen: „Statt Cranberryjuice nehme ich einfach Heidelbeerlikör, etwas Wodka, Zucker und Zitrone.“

Dasselbe mit dem Sex on the Beach: Den mixt Mehmetaj mit Preiselbeerlikör. Dass die regionalen Neuinterpretationen nicht immer gleich in antikapitalistisches Konzernbashing ausarten müssen, zeigt Mehmetajs letzte Kreation: Quitten-Edelbrand mit Homemade-Sirup aus Zimt und Nelken und Moët Hennessy VS. Dennoch bleibt die Frage: Wird die Rückbesinnung der Barkeeper auf regionale Spirituosen die multinationalen Konzerne das Fürchten lehren? Werden sie sich neu erfinden müssen? Oder wird beides, wie beim Quitten-Edelbrand-Mix, nebeneinander existieren können? Mehmetaj sieht das pragmatisch: „Es liegt an mir als Barkeeper, das zu entscheiden!“

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