André Chiang: Warum Köche keine Künstler sind

Was der Leuchtturm der asiatischen Cuisine von Sternen hält, warum Köche keine Künstler sind – und wie sein langer Schatten Taiwans kulinarik in die Zukunft katapultiert.
November 22, 2018 | Text: Lucas Palm | Fotos: Patrick Kirchberger, Hasmore PR

André Chiang ist angekommen. Mit gerade einmal 42 Jahren kann der asiatische Küchen-Titan auf Erfolge zurückblicken, die für zwei Menschenleben reichen. Chiang ist die kulinarische Leitfigur Asiens und hat sich in die ersten Reihen des internationalen Olymps der Haute Cuisine gekocht. Mit seinem Restaurant André hat er nicht nur in Singapur, sondern auf dem gesamten Kontinent Fine-Dining neu definiert. 2013 war er der erste chinesische Koch in den World’s 50 Best: Platz 38. Im vergangenen Jahr dann Platz 14. Auf der 50-Best-Asia-Liste befand sich sein Tempel letztes Jahr auf Platz zwei. Und auch die zwei Michelin-Sterne, die dem Restaurant André 2016 verliehen wurden, sprechen eine eindeutige Sprache. Mit perfektionistischer Akribie, seiner bahnbrechenden Interpretation der New French Cuisine und unermüdlichem Mut, immer Neues zu erschaffen, wurde Chiang zu einem Leuchtturm der kulinarischen Szene des asiatischen Stadtstaats. Mit fast schon neurotischer Sorgfalt widmete sich Chiang in seinem Restaurant André auch den kleinsten Details: Jeder Stuhl dort stand im 45-Grad-Winkel zum Tisch.
Wer auf höchstem Niveau kochen will, muss nach Frankreich gehen
André Chiang wusste, was er wollte

Dieser wiederum war genau zwei Finger breit von der Wand entfernt. Mit seinem Restaurantleiter ging Chiang täglich die Reservierungsliste durch und zerbrach sich den Kopf darüber, wer am besten wo sitzt. Chiangs mittlerweile legendäres Heim schloss Anfang dieses Jahres zwar seine Pforten. Doch er selbst widmet sich weiter seinem 2014 eröffneten Restaurant RAW in seiner Heimatstadt Taipeh. Dort erfindet sich der kulinarische Abenteurer neu, indem er sich auf uralte Traditionen rückbesinnt. Im Grunde genommen lernt Chiang seine Heimat erst durch das RAW so richtig kennen. Denn bereits als Jugendlicher ging er nach Japan, um dort in der Küche des chinesischen Restaurants seiner Mutter anzufangen. Nur: Bei ihr durfte kein Rezept auch nur ansatzweise geändert werden. Und der 15-jährige Chiang suchte die He­rausforderung. „Wer auf höchstem Niveau kochen will, muss nach Frankreich gehen“, wusste Chiang – und ging, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, in das Heimatland der Nouvelle Cuisine. Genauer gesagt: in den 3-Sterne-Tempel Le Jardin des Sens der Zwillinge Jacques und Laurent Pourcel. Immer wieder erinnert sich Chiang an das prägendste Erlebnis bei seinen Lehrmeistern: Beide nahmen ihren neuen Schützling, der noch kein Wort Französisch sprach, mit auf den Markt. Von seiner Zeit in Japan das assistierende Gehorchen gewohnt, glaubte Chiang, nicht recht verstanden zu haben, als einer der Pourcel-Brüder ihm ein Gemüse in die Hand drückte und fragte: „Was hältst du davon?“ „Das war der Moment“, erinnert sich Chiang, „in dem ich aufwachte und verstand: Ein Restaurant ist keine Fabrik, es ist ein Ort, an dem man sich ausdrücken kann. Man braucht die Inspiration und muss sie umwandeln in Essen.“
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André Chiang ist angekommen. Mit gerade einmal 42 Jahren kann der asiatische Küchen-Titan auf Erfolge zurückblicken, die für zwei Menschenleben reichen. Chiang ist die kulinarische Leitfigur Asiens und hat sich in die ersten Reihen des internationalen Olymps der Haute Cuisine gekocht. Mit seinem Restaurant André hat er nicht nur in Singapur, sondern auf dem gesamten Kontinent Fine-Dining neu definiert. 2013 war er der erste chinesische Koch in den World’s 50 Best: Platz 38. Im vergangenen Jahr dann Platz 14. Auf der 50-Best-Asia-Liste befand sich sein Tempel letztes Jahr auf Platz zwei. Und auch die zwei Michelin-Sterne, die dem Restaurant André 2016 verliehen wurden, sprechen eine eindeutige Sprache. Mit perfektionistischer Akribie, seiner bahnbrechenden Interpretation der New French Cuisine und unermüdlichem Mut, immer Neues zu erschaffen, wurde Chiang zu einem Leuchtturm der kulinarischen Szene des asiatischen Stadtstaats. Mit fast schon neurotischer Sorgfalt widmete sich Chiang in seinem Restaurant André auch den kleinsten Details: Jeder Stuhl dort stand im 45-Grad-Winkel zum Tisch.

Wer auf höchstem Niveau kochen will, muss nach Frankreich gehen
André Chiang über seine Zielstrebigkeit

Dieser wiederum war genau zwei Finger breit von der Wand entfernt. Mit seinem Restaurantleiter ging Chiang täglich die Reservierungsliste durch und zerbrach sich den Kopf darüber, wer am besten wo sitzt. Chiangs mittlerweile legendäres Heim schloss Anfang dieses Jahres zwar seine Pforten. Doch er selbst widmet sich weiter seinem 2014 eröffneten Restaurant RAW in seiner Heimatstadt Taipeh. Dort erfindet sich der kulinarische Abenteurer neu, indem er sich auf uralte Traditionen rückbesinnt. Im Grunde genommen lernt Chiang seine Heimat erst durch das RAW so richtig kennen. Denn bereits als Jugendlicher ging er nach Japan, um dort in der Küche des chinesischen Restaurants seiner Mutter anzufangen. Nur: Bei ihr durfte kein Rezept auch nur ansatzweise geändert werden. Und der 15-jährige Chiang suchte die He­rausforderung. „Wer auf höchstem Niveau kochen will, muss nach Frankreich gehen“, wusste Chiang – und ging, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, in das Heimatland der Nouvelle Cuisine. Genauer gesagt: in den 3-Sterne-Tempel Le Jardin des Sens der Zwillinge Jacques und Laurent Pourcel. Immer wieder erinnert sich Chiang an das prägendste Erlebnis bei seinen Lehrmeistern: Beide nahmen ihren neuen Schützling, der noch kein Wort Französisch sprach, mit auf den Markt. Von seiner Zeit in Japan das assistierende Gehorchen gewohnt, glaubte Chiang, nicht recht verstanden zu haben, als einer der Pourcel-Brüder ihm ein Gemüse in die Hand drückte und fragte: „Was hältst du davon?“ „Das war der Moment“, erinnert sich Chiang, „in dem ich aufwachte und verstand: Ein Restaurant ist keine Fabrik, es ist ein Ort, an dem man sich ausdrücken kann. Man braucht die Inspiration und muss sie umwandeln in Essen.“

Ruf der Heimat

Zu dieser Zeit war Chiang noch ein Suchender. Auch ein Getriebener, der rastlos versuchte, alles Können und Wissen, das ihn in den großen Küchen umgab, aufzusaugen und mit größter Perfektion umzusetzen. „Als ich in Frankreich war, gab es einen Moment, in dem ich bemerkt habe, dass ich blockiert bin. Ich habe bemerkt, dass ich es nie besser können werde als die Franzosen. Weil sie damit groß geworden sind.Und ich? Womit bin ich groß geworden? Ich bin groß geworden mit Ingwer, Koriander, mit Tee und Gewürzen.“ Es war eine Phase, in der Chiang hin- und hergerissen war. „In Frankreich“, sagt Chiang, „habe ich 100 Prozent gelernt. Aber die Frage ist: Wie kann man etwas besser machen als 100 Prozent? Die Antwort liegt auf der Hand: Du lernst die 100 Prozent, die du können musst – und der Rest kommt durch dich, und nur durch dich allein. Auf meine 100 Prozent Frankreich legte ich meine eigene Persönlichkeit und vor allem mein kulturelles Erbe, das in der französischen Küche in diesem Umfang einfach keinen Platz hatte.“ Es war diese vorwärtspreschende Rückbesinnung, die Chiangs Weg, der ihn zum Erfolg führen sollte, ebnete. „Ich glaube, dass man in jedem Alter, in jeder Phase seines Lebens eine andere Mission hat.“ Und Chiangs Mission war klar: die Zelte in Frankreich abzubrechen und näher an sich selbst und seiner Heimat zu sein.

Künstler oder Handwerker?

Er ging nach Singapur. Noch war es keine Rückkehr. Das ist von einer faszinierenden Logik, die Chiangs gesamte Biografie wie ein roter Faden durchzieht. Im asiatischen Stadtstaat eröffnete Chiang 2010 gemeinsam mit seiner Frau Pamela das Restaurant André – und interpretierte die New French Cuisine auf eine bahnbrechende, zutiefst persönliche Art. Was ihn zur Eröffnung des Restaurants André bewog, war vor allem die Frage: „Wie kann ich mich als Chef selbst definieren, der frei ist von all den starken Persönlichkeiten, mit denen ich zusammengearbeitet habe?“ Die Antwort materialisierte sich kulinarisch in einem einzigartigen Konzept. Ohne fixes Menü bestellte Chiang schlicht und ergreifend bei den besten Produzenten der Welt, denen er blind vertraute. So bestellte er beispielsweise zehn Kilogramm Meeresfrüchte am Tag – ob er dabei Hummer, Krabben oder Oktopus erhielt, wusste er im Voraus nicht. Auch gab es im Restaurant André keine Vor-, Haupt- oder Nachspeisen, sondern ausschließlich Gerichte, die in ihrer Bedeutung ausnahmslos gleichrangig waren. Während Chiangs Versuch, sein Restaurant zu definieren, ergab sich aus all seinen Erfahrungen, die er in Frankreich gesammelt hatte, wie von allein seine Octaphilosophy. Sie besteht aus acht Elementen, die zentrale Dreh- und Angelpunkte all seiner Gerichte sind. Dabei ist die Octaphilosophy weniger als geschlossenes Konzept zu verstehen, sondern eine Art achtteiliger Baukasten, der Chiang ein stringentes Werkzeug für seine kulinarische Neugierde gibt. Jeder Gang im Restaurant André widmete sich einem dieser Elemente, die Chiang auch als „Charakteristika“ bezeichnet. Unique, Texture, Memory, Pure, Terroir, Salt, South und Artisan, wobei Chiang sich zu diesem letzten Begriff besonders viel Gedanken gemacht hat. „Artisan“ heißt auf Englisch so viel wie Handwerker, während „Artist“ Künstler heißt. Chiang besteht auf eine genaue Unterscheidung dieser beiden Begriffe: „Viele Leute denken, dass ein Koch ein Künstler ist. Aber Künstler machen, was sie wollen. Ihrem Schaffen sind keine Grenzen gesetzt. Sie können arbeiten, ohne darüber nachzudenken, warum Dinge miteinander funktionieren müssen. Ein Koch hingegen ist ein Artisan, also ein Handwerker. Natürlich muss er kreativ sein. Aber hinter dieser Kreativität braucht es Präzision, genaue Umsetzung und Realismus. Viele Köche sind schon zugrunde gegangen, weil sie glaubten, sie wären Künstler. Weil sie nicht über die Kosten nachgedacht haben und darüber, wie realistisch Dinge umsetzbar sind.“ Chiangs Octophilosophy hat mehr als nur funktioniert: 2016 erhielt das Restaurant André zwei Michelin-Sterne, 2017 belegte es Platz zwei der Asia’s 50 Best Restaurants und war damit Singapurs Nummer eins.
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Reif für die Insel

Für Chiang war damals, als er diese großen Erfolge einfuhr, klar, dass dieser „unrealistische Moment von Perfektion“, den er 30 Jahre lang herbeigesehnt hatte, endlich gekommen war. 2017 verkündete Chiang, das Restaurant schließen zu wollen. Böse Zungen behaupteten, es habe damit zu tun, dass Chiang letztlich nicht den dritten Stern geholt habe. Doch Chiang stellte klar: „Meine Entscheidung, das Restaurant André zu schließen, hat nichts mit irgendwelchen Preisen zu tun.“ Darauf angesprochen, was Chiang von den Preisen hält, wird schnell klar, dass er auch hier eine differenzierte Sicht auf die Dinge hat: „Für mich geht es bei den Michelin-Sternen nur um pures Ego, um nichts anderes. Bei den 50 Best ist es anders. Die haben nämlich wirklich etwas verändert, weil es durch sie ein Umfeld gibt, in dem die 50 besten Köche zusammenkommen, sich treffen und miteinander austauschen können. Außerdem geben sie Köchen aus allen Teilen der Welt die Möglichkeit, mehr Sichtbarkeit zu haben und mehr für ihr eigenes Land zu tun.“ Damit spricht Chiang einen wichtigen Punkt an. Denn die Schließung des Restaurants André hatte auch den Grund, dass Chiang reif für die Insel war. Beziehungsweise: reif für die Heimkehr nach Taiwan. Seine Rückkehr hatte er jedoch sorgsam vorbereitet. Denn zum Zeitpunkt der Schließung des Restaurants André hatte er bereits seit knapp vier Jahren sein Restaurant RAW in der taiwanischen Hauptstadt Taipeh eröffnet. Mittlerweile wurde das RAW mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet, befindet sich seit drei Jahren durchgehend in der Asia’s-50-Best-Restaurant-Liste und wurde bereits zwei Mal als Taipehs bestes Restaurant ausgezeichnet. Chiangs Philosophie, die er im RAW praktiziert, ist gleichermaßen simpel wie bahnbrechend: Alle Produkte sind zu 100 Prozent biologisch, regional und biodynamisch. Dabei teilt André Chiang, gemäß uralter taiwanischen Weisheit, das Jahr in 24 Mikrosaisonen ein, aus denen jeweils 21 saisonale Zutaten für das Menü ausgewählt werden. „Die Micro-Seasons sind ein uraltes Erbe, das nicht besser in die Zukunft passen könnte“, weiß der kulinarische Titan der kleinen Insel.
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Leuchtender Schatten

Sosehr Chiang sich der Rückbesinnung auf seine eigene Wurzeln hingibt, sosehr beschäftigt ihn die Zukunft. Sein größtes Anliegen, sagt Chiang, ist das Projekt eines Larousse-Gastronomique-Buches über Taiwan. Eine kulinarische Enzyklopädie über sein Land also. „Damit die Leute verstehen, wo wir herkommen. Was unsere DNA ist. Denn bis heute haben wir eigentlich nichts Handfestes.“ Ein anderes Projekt, dem sich Chiang auch in Zukunft widmen wird, ist ein neues altes. Denn wie im Sommer bekannt wurde, eröffnete der schwedische 3-Sterne-Meister Björn Frantzén im November in den heiligen Hallen des ehemaligen Restaurants André sein eigenes Restaurant Zén. Sein Kollege und Freund Chiang wird ihm dabei beratend zur Seite stehen. „Björn wird meinen kreativen Support nicht brauchen“, weiß Chiang. „Was er braucht, sind meine Kenntnisse und mein Netzwerk an Produzenten, Kunden, aber auch Daten. Ich gebe ihm mein Know-how über Singapur.“ Chiang hat kein Bedürfnis danach, ein neues Restaurant zu eröffnen. Vielmehr möchte er sich der jungen Generation an Nachwuchsköchen widmen, indem er ihnen neues Selbstvertrauen für ihre eigene Kultur zurückgibt. „Die junge Generation hier fühlt sich gerade verloren. Vor allem, weil sie ein uraltes Basiswissen nicht vermittelt bekommt. Ich möchte meinen zukünftigen Beitrag dazu leisten. Ich fühle mich glücklicher und besser, sie dabei zu unterstützen, anstatt selbst im Mittelpunkt zu stehen. Ich bin glücklich darüber, der Schatten zu sein.“ Fest steht: Selten war ein so langer Schatten für eine neue Generation von taiwanischen Köchen ein so großer Segen.
www.raw.com.tw

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