Der Alchemist Rasmus Munk: Lust und Provokation für eine bessere Welt

Rasmus Munks Kreationen schockieren und provozieren – und brachten ihm schon wenige Monate nach Eröffnung des Alchemist zwei Michelin-Sterne. Der ganzheitliche Denkansatz des jungen Dänen reicht aber weit über die Mauern seiner ehemaligen Werfthalle hinaus. Und macht ihn zum aktuell progressivsten Koch Europas.
November 3, 2022 | Text: Hannes Kropik | Fotos: Raphael Gabauer, Søren Gammelmark, Claes Bech Poulsen

Da liegt er also. Dieser halbe Schädel. Öffnet man seine Decke, kommt jedoch kein Gehirn zum Vorschein. Stattdessen: Ein geradliniger und elegant drapierter Würfel Foie gras. Das Gericht ist in seiner Gesamtheit eine Hommage an den spanischen Bauern Eduardo Sousa: Dem ist es gelungen, einen natürlichen Weg zu finden, wie sich seine Gänse freiwillig überfressen – und so beste Foie gras liefern.

Für Alchemist-Gründer Rasmus Munk ist es aber viel mehr: Es beschreibt einen Zugang, der ein zentraler Baustein für seine 50-gängigen Menüs ist und den Titel „Food for Thought“ trägt. Was sich im Deutschen als „Denkanstoß“ nur unzureichend bildlich übersetzen lässt. Also erklärt Munk: „Ich verbinde mein Engagement in sozialen Fragen mit meiner Leidenschaft fürs Kochen.“ Aber dazu später mehr.

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Rasmus Munk, 31, experimentiert mit den Gefühlen seiner Gäste. „Warum sie sich das gefallen lassen? Ganz einfach:
Weil unsere Gerichte köstlich schmecken.“

Auf den Spuren von Ferran Adrià

Da liegt er also. Dieser halbe Schädel. Öffnet man seine Decke, kommt jedoch kein Gehirn zum Vorschein. Stattdessen: Ein geradliniger und elegant drapierter Würfel Foie gras. Das Gericht ist in seiner Gesamtheit eine Hommage an den spanischen Bauern Eduardo Sousa: Dem ist es gelungen, einen natürlichen Weg zu finden, wie sich seine Gänse freiwillig überfressen – und so beste Foie gras liefern.

Für Alchemist-Gründer Rasmus Munk ist es aber viel mehr: Es beschreibt einen Zugang, der ein zentraler Baustein für seine 50-gängigen Menüs ist und den Titel „Food for Thought“ trägt. Was sich im Deutschen als „Denkanstoß“ nur unzureichend bildlich übersetzen lässt. Also erklärt Munk: „Ich verbinde mein Engagement in sozialen Fragen mit meiner Leidenschaft fürs Kochen.“ Aber dazu später mehr.

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Rasmus Munk, 31, experimentiert mit den Gefühlen seiner Gäste. „Warum sie sich das gefallen lassen? Ganz einfach:
Weil unsere Gerichte köstlich schmecken.“

Auf den Spuren von Ferran Adrià

Rasmus Munk wurde 1991 in Randers geboren, einer Hafenstadt im Norden Dänemarks mit 62.000 Einwohnern. Sein Lebenslauf erzählt von Tiefkühlpizzen und Instantgerichten, die in seiner Kindheit wenig Hinweise auf eine Karriere als Haubenkoch lieferten. „Meine Mutter“, formuliert er pointiert, „konnte nicht einmal hart gekochte Eier zubereiten“. Heute versteht er die New Nordic Cuisine als Basis seiner Arbeit.

Ich verbinde mein soziales Engagement mit meiner Leidenschaft fürs Kochen.
Rasmus Munk

Kopenhagens Elitelokale wie das Noma oder das Geranium waren „das ganz normale Umfeld, in dem ich als junger Koch aufgewachsen bin“. Später hat sich Dänemarks Jungkoch des Jahres 2014 in die Molekularküche von Ferran Adriàs El Bulli verliebt – allen voran in deren Verspieltheit: „Ich habe dort leider nie gegessen, aber ich habe alle Bücher zum Thema gekauft, die es gibt und sehr genau studiert.“

Umfassende Inszenierung

Zurück in sein Restaurant Alchemist.

Es liegt – in Gehdistanz zum Noma – auf Refshaleøen, einer ursprünglich aufgeschütteten und heute hippen Halbinsel im Kopenhagener Hafen. Die ehemalige Werfthalle war zuvor Requisitenlager und Kulissenwerkstatt des Königlich Dänischen Theaters und bietet auf einer Fläche von 2.200 Quadratmetern auf zwei Ebenen einen allumfassenden Ansatz von Inszenierungsgastronomie, in der Gerüche und Temperatur eine ebenso wichtige Rollen spielen wie das Licht- und Sounddesign.

„Wir laden die Gäste ein, ihre Komfortzone zu verlassen.“

Zentrale Bedeutung kommt (neben dem 15 Meter hohen, dreistöckigen Weinkeller mit rund 10.000 lagernden Kostbarkeiten) dem „Dome“ zu. Hier sollen die Gäste im dritten Akt des Abends mit 30 genussvollen Attraktionen in Erstaunen versetzt werden. 200 Tonnen Stahl waren notwendig, um jene Kuppel mit einem Durchmesser von 18 Metern zu formen, die mithilfe von zehn Laserprojektoren wie ein Planetarium mit unterschiedlichen Visuals bespielt werden. So soll der Gast auf einer zusätzlichen Ebene in sein Essen eintauchen.

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„Tongue Kiss“, „1984“, „Andy Warhol“, „Antwitch“, „Burnout Chicken“. Die richtige Abfolge seiner Gänge erarbeitet Munk gemeinsam mit einem Theater-Dramaturgen

Plastik im Meer, Plastik am Tisch

Etwa, wenn sich die Kuppel in eine Unterwasserwelt verwandelt, in der Quallen und Plastikmüll schwimmen. Dazu passend serviert Munk ein Gericht namens „Plastic fantastic“, mit dem er auf die Verschmutzung der Weltmeere aufmerksam machen will: „Wir wissen, dass bereits 30 Prozent aller Kabeljaus, die in nördlichen Gewässern gefischt werden, Plastikteile enthalten“, sagt Munk im Gespräch mit dem Rolling Pin.

Also kreiert er aus gegrilltem Kieferknochen eines Kabeljaus, dem geräucherten Knochenmark und der dehydrierten Haut des Fisches, die auf den ersten Blick tatsächlich aussieht wie Plastik, eine perfekte Illusion zum Thema Umweltverschmutzung: „Selbstverständlich servieren wir diesen Gang auf einem Plastikteller, um zu demonstrieren, dass der Müll auf die eine oder andere Art zu dir zurückkommt.“

Eines seiner umstrittensten Gerichte, weiß Munk, heißt „Tongue Kiss“ und hat eine tragische Hintergrundgeschichte: „Wenige Wochen vor Eröffnung des Restaurants wurde bei einem guten Freund Zungenkrebs diagnostiziert. Mit dieser Kreation wollte ich das Thema zumindest unterschwellig mittransportieren.“ Tatsächlich erregt die Präsentation viele Gemüter: Saisonal wechselnde Zutaten werden auf einer Silikonzunge gereicht, die der geneigte Gast zur Gänze in den eigenen Mund schieben soll.

Ekel sensibilisiert

„Die Basis ist natürlich, dass alle Gerichte ausgezeichnet schmecken. Aber wir laden unsere Besucher ein, ihre Komfortzone zu verlassen“, sagt Rasmus Munk, „und spielen mit Emotionen wie Lust, aber auch Ekel.“

Gleichzeitig fördert das ungewöhnliche Tool aber auch die Aufmerksamkeit der Geschmacksknospen, wie eine Befragung von 80 Gästen zeigt: „Eine Gruppe hat statt der Zunge einen normalen Löffel bekommen und uns durchwegs positives Feedback gegeben – konnte sich im Schnitt aber nur an drei Zutaten erinnern. Bei der anderen Gruppe gab es öfters Beurteilungen wie ‚schrecklich‘ oder ‚ekelerregend‘ – diese Menschen konnten sich aber an zehn verschiedene Geschmäcker erinnern. Es liegt wohl daran, dass du sensibilisierter bist, wenn du etwas zum ersten Mal machst.“

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„The Pigeon“: Französische Tauben reifen 14 Tage in Bienenwachs, dessen Schmelzpunkt bei 55 Grad liegt. Darum wird die Taube bei 52 Grad gekocht

Zu den vielfältigen Themen, die er kulinarisch aufgreift, zählt die Immigration und ihr Einfluss auf die Welt der Küchen ebenso wie der Mangel an Blutspendern oder die Massentierhaltung, die er explizit anhand seines „Burn­out Chickens“ anprangert: „Wir haben unseren Sounddesigner zu einer dieser Hühnerfarmen geschickt, wo die Tiere in Käfigen gehalten werden. Seine illegalen Tonaufnahmen spielen wir ab, während wir eine Kreation servieren, deren oberer Teil essbar ist – anfassen müssen sie dafür aber tatsächlich einen kalten, toten Hühnerfuß. Dir muss klar werden, dass wir einem Tier das Leben nehmen, damit du es essen kannst.“

„Ich habe entdeckt, dass Provokation ein effektives Werkzeug ist.“

Doch Rasmus Munk geht es um mehr als die pure Lust am Schockieren: „Ich habe entdeckt, dass eine ausgewogene Provokation ein sehr effektives Werkzeug ist, um spezielle Themen über das Essen zu kommunizieren. Wenn du selbst ein Huhn an seinem kalten Bein anfassen musst, um es aus seinem Käfig zu befreien, dann musst du einen Widerstand in dir überwinden. Dieser emotionale Einschlag begleitet dich hoffentlich über den Abend hinaus. Wenn du später an dieses Gericht denkst, denkst du auch an die Botschaft, die es vermitteln sollte.“

Sag mir, wovon du träumst

Ermöglicht wurde der Zauber des Alchemist durch die Partnerschaft mit Lars Seier Christensen. Der Multimillionär, der die Basis für seine finanzielle Unabhängigkeit als Gründer der Saxo-Bank gelegt hatte, ist als Besitzer des Kopenhagener Drei-Hauben-Restaurants Geranium kein Unbekannter in der Gastro-Welt. Er erkannte Munks außergewöhnliches Talent früh, doch der lehnte einen Einstieg des Finanziers in seine damals deutlich kleinere Ur-Version des Alchemist ab: „Ich war zufrieden, wie es war. Aber Lars hat mich dann eingeladen, ihm von meinen Träumen zu erzählen.“

Kostspielige Träume, wie sich herausstellen sollte, denn der zweijährige Umbau der Lagerhalle überstieg das ursprüngliche Budget um das Zehnfache und soll final rund 17 Millionen Euro gekostet haben. Dass er mit seinen kritischen Ansätzen jene Hände beißt, die ihn füttern, glaubt er nicht.

„Du musst einen Widerstand in dir überwinden.“

Seine Gäste, die pro Menü mindestens 600 Euro auf den Tisch legen, seien einerseits ohnehin bereits sehr engagiert in sozialen Fragen oder auch im Umweltschutz: „Und wenn nicht, dann ist so ein Abend eine gute Gelegenheit, sie mit gewissen Themen zu konfrontieren. Sie sind entspannt und lassen sich vielleicht eher auf eine offene Diskussion ein.“ Munks Idee von der ganzheitlichen Gastronomie lässt ihn groß träumen. „Für das Tagesgeschäft sind im Alchemist zwei Chefköche verantwortlich. Ich nutze meine Zeit vor allem, um Konzepte zu entwickeln.“

Ideen für eine bessere Welt

Im Fokus steht dabei immer der Wunsch, die Welt zu verbessern. Etwa durch seine „JunkFood“-Organisation, die Munk – mit finanzieller Unterstützung seines Mäzens – während des ersten Corona-Lockdowns 2020 ins Leben gerufen hat: „Unsere Küche stand leer, gleichzeitig hatten Hilfsorganisationen Schwierigkeiten, Obdachlose zu verköstigen. Also haben wir begonnen, jeden Tag eine warme Mahlzeit für sie zuzubereiten. Mittlerweile haben wir eine eigene Großküche dafür entwickelt, kochen für Bedürftige in ganz Dänemark und wollen dieses Angebot für ganz Skandinavien ausbauen.“

„Ich will die Welt zu einem besseren Ort machen.“

Auch die Kooperation mit dem Mary Elizabeth’s Hospital, das 2025 in Kopenhagen eröffnet werden und bis zu 500 Kinder und Jugendliche aus ganz Dänemark stationär behandeln soll, bringt Munks Augen zum Glänzen: „Essen ist Medizin. Die Idee ist, dass die Kinder besser ernährt und dadurch schneller gesund werden sollen – was bedeutet, dass ihre Aufenthalte kürzer und damit billiger werden. Wir hoffen, dass wir in zehn Jahren den Einfluss der richtigen Ernährung auf Patienten wissenschaftlich belegen können. Und dann kann das Konzept auf andere Krankenhäuser übertragen werden.“

Mehr als nur eine Lust befriedigen

Rasmus Munk glaubt durchaus, dass es sein Recht, wenn nicht sogar seine Pflicht ist, als Koch seine Stimme zu erheben: „Es muss natürlich jeder für sich selbst und sein Handeln die Verantwortung übernehmen. Ich habe mich entschieden, meiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Mit meinen Skills als Koch habe ich die Möglichkeit, mehr als nur die Lust auf gutes Essen zu befriedigen.“ Dass sein Alchemist seit 2020 durchgehend zwei Michelin-Sterne trägt, freut ihn wie alle anderen Auszeichnungen natürlich sehr: „Aber, ganz ehrlich: Ich würde doch nicht so viel Zeit, Geld und Energie in ein Restaurant stecken, wenn seine Wirkung nicht weit über die Mauern hinausreichen könnte. Im Endeffekt will ich die Welt zu einem besseren Ort machen.“

Rasmus Munk

In der  Ur-Version des Alchemist bot der heute 31-jährige Däne 15 Gästen Platz. Das neue, 2200 Quadratmeter große Lokal in einer ehemaligen Werfthalle bewirtet immerhin 48 Gourmets, die sich für das 50-gängige Erlebnis sechs Stunden Zeit nehmen sollten. Die Nachfrage für die mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Inszenierung ist groß: Pro Tag gibt es im Schnitt eine Warteliste mit 1000 Namen. Das Menü kostet rund 600 Euro, die Weinbegleitung weitere 215 bis 1935 Euro.

alchemist.dk

 

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